Antwort von Ilja Seifert;

LAG Ökologische Plattform NRW

Kandidat*innenbefragung zum Parteivorstand, Leipziger Parteitag 2018

Lieber Hans-Werner,
liebe Genossinnen und Genossen,

habt Dank für Eure so frühzeitige Anfrage, mit der Ihr meine Haltung zum sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft erfahren möchtet. Wenn ich das recht verstehe, wollt Ihr davon Eure Wahlentscheidung auf dem Leipziger Parteitag abhängig machen. Unter diesen Umständen ist wohl (fast) jede*r Kandidat*in geneigt, Euern Vorstellungen sofort und uneingeschränkt zuzustimmen? So ähnlich wie bei Wahlprüfsteinen von NGOs. Ich habe diesbezüglich (NGO-Wahlprüfsteine zu verfassen, zu versenden und auszuwerten) große Erfahrungen. Sie sind nicht immer positiv. 
Doch nun: Zur Sache. Selbstverständlich will ich eine andere Gesellschaft! Sie soll solidarisch sein, sie soll selbstverständlich ökologisch sein. Sie soll demokratisch sein, barrierefrei und multikulturell.
Ich weiß, daß eine solche Gesellschaft innerhalb der herrschenden (kapitalistischen) Verhältnisse nicht erreichtbar ist. Wir können unter den gegenwärtigen Bedingungen nur versuchen, möglichst viele Keime einer neuen Gesellschaft zu pflanzen. Und selbstverständlich müssen wir diese zarten Pflänzchen hegen und pflegen, häufig genug massiv verteidigen. Und - auch diese Erfahrung läßt sich nicht ignorieren - wir müssen nicht selten auch (herbe) Rückschläge hinnehmen. Sei es im sozialen Bereich: Dafür steht Hartz IV symptomatisch. Sei es im ökologischen Bereich: Dafür steht z.B. Glyphosdat symptomatisch. Sei es im demokratischen Bereich: Dafür steht das bayrische PAG symptomatisch. Sei es im Inklusionsbereich: Dafür stehen abgesenkte bzw. nicht eingehaltene Bauvorschriften symptomatisch. Sei es im multikulturellen Bereich: Dafür stehen viele Angriffe auf zugezogene Mitbürger*innen symptomatisch. Die Beispiele ließen sich noch lange fortsetzen.
Mein Hauptbetätigungsfeld ist die Behindertenpolitik. 1990 war ich Gründungspräsident des Behindertenverbandes der DDR, der seit August 1990 als Allgemeiner Behindertenverband in Deutschland "Für Selbstbestimmung und Würde" (ABiD) Teil der deutschen und europäischen (innerhalb und außerhalb der EU) Behindertenbewegungung ist. 1990 war es keinesfalls selbstverständlich, daß ein PDS-Mitglied (ehemaliges SED-Mitglied) in eine solche Funktion gewählt wurde. Aber ich vertrat meine Positionen als PDS- und später LINKE-Abgeordneter in der Volkskammer und zwischen 1990 und 2013 (mit Unterbrechungen) insgesamt fast 17 Jahre im Bundestag, ohne je diese ehrenamtliche Verwurzelung aufzugeben. Im Gegenteil nutzte ich jede Gelegenheit, diesbezügliche Synergien zu nutzen.
Mein Leitkonzept sind die Menschenrechte. Sie gelten für Jede*n, immer und überall. Aber sie sind beileibe noch nicht Alltagspraxis. Auch in Deutschland nicht. Insbesondere seit die UN-Behindertenrechtskonvention hierzulande geltendes innerstaatliches Recht ist (März 2009), haben wir ein starkes Dokument, mit dem wir die Herrschenden immer wieder an ihre eigenen "hehren Grundsätze" (Werte) Erinnern können.
Ähnlich - wenn auch mit "schwächeren" Dokumenten - verhält es sich wohl im ökologischen Bereich? Auch hier klaffen wissenschaftliche Erkenntnis, zukunftsorientierte Erfordernisse und politisches (sowie wirtschaftliches) Handeln weit auseinander. Auch diesbezüglich können/müssen wir mit Vernunft argumentieren und uns gleichzeitig bewußt sein, daß die Gegenseite vor allem von kurzfristigen Profit- und Machtinteressen geleitet ist. Ein im Kapitalismus unauflöslicher Widerspruch, mit dem wir trotzdem täglich umgehen müssen.

So. Jetzt schrieb ich Euch einen ziemlich langen Text, ohne direkt auf Eure Fragen einzugehen. Das könnt Ihr mir übel nehmen. Oder Ihr könnt aus meinem Brief erkennen, daß es mir nur zu billig ist, Eure suggestiven Fragen einfach mit "Ja!" zu beantworten.
Das "Plan-B"-Projekt beschloß die Bundestagsfraktion in der Zeit, als ich ihr Mitglied war. Ich stehe also von Anfang an dahinter.
Was Euern Wunsch nach einem Sonderparteitag angeht: Ja, ich bin dafür, daß sich demnächst ein LINKE-Parteitag schwerpunktmäßig mit dem Thema sozialer, ökologischer und b a r r i e r e f r e i e r Umbau der Gesellschaft befaßt. Ob das ein Sonderparteitag sein muß/wird oder ob während eines regulären Parteitags ein Tag dafür reserviert wird, ist mir gegenwärtig noch egal. Wichtig ist, daß wir uns damit öffentlich, streitbar und solidarisch befassen.

Da es zum Wesen von Wahlprüfsteinen gehört, die Antworten zu verbreiten, habe ich selbstverständlich keine Einwände dagegen, daß Ihr auch mit meinem Brief so verfahrt.

Mit solidarischen Grüßen
Euer
Ilja Seifert